INDIEN

Spuren eines großen Kinos

Erschienen im FM architekture 08/14

© Sabine Haubitz und Stefanie Zoche

© Sabine Haubitz und Stefanie Zoche

In meiner Jugend lief vor jedem Film, den man in der Matineevorstellung am Sonntag Vormittag sehen konnte - die „Fox‘ Tönende Wochenschau“. Im Wiener Gartenbaukino gab es vor jeder Vorstellung die Modeschau mit dem berühmten Slogan: „Er trägt Burghemden“. In England waren Kinos Paläste und am Ende der Vorstellung wurde „God save the Queen“ gespielt.

 

Besteht die Zukunft unserer heutigen Kinos aus den hässlichen Multiplexen mit dem Parkplatz vor der Tür und all den kleinen Kinoboxen im Inneren? Oder wird das Kino der Zukunft wie der Ufa Kristallpalast in Dresden mit seiner dekonstruktivistischer Architektur das Kinoerlebnis dominieren? Oder wie in Indien mit großformatigen Kinoplakaten in den öffentlichen Raum hinausstrahlen?  In südlichen Teil von Indien haben die Künstlerinnen Sabine Haubitz und Stefanie Zoche eine Entdeckungsreise durch die Welt der dortigen Kinoarchitektur gemacht und die sehenswerten Bilder von Oktober bis Dezember in München, in der Galerie Nusser & Baumgart präsentiert. Die Fotografien der Kinogebäude sind auf drei Reisen von 2010 bis 2013 in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu, Kerala, Karnataka und Andhra Pradesh entstanden und in der Fotoserie „Hybrid Modernism. Movie Theaters in South India“ zusammengefasst. Sie untersucht die Rezeption und Neuinterpretation westlicher architektonischer Einflüsse in Südindien und enthüllt die ästhetische Qualität dieser außergewöhnlichen Gebäude. Nicht erst seit 2004, dem Beginn des Bollywood-Booms sind das Kino und die Welt des Films ein relevanter wirtschaftlicher Faktor und ein gesellschaftlicher Indikator innerhalb der indischen Kultur. In diesem Land, das jährlich etwa 1200 Filme in 30 Sprachen produziert und damit in dieser Hinsicht die führende Nation der Filmindustrie darstellt, hat die Welt des Kinos überall ihre Spuren hinterlassen.  Aber auch sie sind von den postkolonialistischen Einflüssen der westlichen Architektur und deren Architekten nicht unbefleckt. Dies zeigen die zahlreichen, bereits in den 1950er bis 1970er Jahren erbauten Filmtheater, deren Architektur auf einer ungewöhnlichen, irritierenden Mischung aus westlichen Einflüssen und lokalen Baustilen basiert. Diese Melange entsteht aus der bewussten und unbewussten Aneignung von Zeichen und Symbolen der kolonisierenden Kultur und deren Integration in das eigene Zeichensystem. Zwischen diesen verschiedenen Kulturen entsteht, sozusagen ein hybrider dritter Raum, der eine kritische Distanzierung ermöglicht.  Die Architekturen erscheinen auf den ersten Anblick wie Kulissen, eine Mischung aus traditionellen Elementen und den Einflüssen, Symbolen und ikonografischen Zeichen der westlichen Architektur. Maßgeblich wurden ihre Erscheinungsbilder durch die Bauten, die Le Corbusier in Indien errichtet hat, inspiriert. Manchmal meint man sogar, richtige Potpourris seiner Arbeiten zu erkennen. Aber auch postmoderne Teile tauchen auf. Bei manchen der südindischen Kinogebäude ist dieser Einfluss zwar deutlich erkennbar, wird aber von Elementen durchbrochen, die aus westlicher Sicht eher als „anti-modernistisch“ (in dem Sinn, dass die Postmoderne zwar auch modern aber nicht modernistisch ist) bewertet werden können. Ihren Ursprung haben sie in der traditionellen indischen Architektur ebenso, wie auch im Art Déco: Starke Farbigkeit, auffälliger bauplastischer Schmuck und Ornamentalität - vor allem in den Innenräumen - sind die prägenden Merkmale. Bei den in der Ausstellung gezeigten Bauten fällt auch die - oft kulissenhafte - Wirkung der Fassaden auf. Sie scheinen wie davor gestellt, losgelöst vom eigentlichen Volumen. Durch diesen Kunstgriff wird der Prozess, der den eigentlichen Inhalt des Kinofilmes ausmacht, die Immersion (das Eintauchen in eine Szene virtueller Realität) schon vorweggenommen und in den Außenraum transportiert. Dieses Phänomen erlebt man heute nicht nur in Indien, sondern in allen Metropolen der Welt, allerdings in die digitale Welt und Sprache übersetzt: Die nokturnen, immateriellen Oberflächen der digitalen Medientechnologien, blinkende, selbstschreibende Neon-Schriftzüge legen sich um die architektonischen Körper und gliedern sie wie Gesimsbänder. Sie türmen sich zu monumentalen, ineinanderfließenden Bildwänden auf, die schon aufgrund ihrer schieren Größe überwältigend wirken.  Wenn man - auch nur gedanklich - diese Eindrücke mit den Fotos der beiden Künstlerinnen vergleicht, kommt ein bisschen Wehmut ob des Verlustes von Materialität und Farbe zugunsten einer virtuellen Oberfläche auf: In Indien sind es eben doch noch Spuren einer echten Architektur, die beeindrucken.


William Knaack