Fritz Matzinger

LES PALÉTUVIERS
 

Architekt Fritz Matzinger wohnt, lebt und arbeitet in seinem ersten, nach dem Prinzip des gemeinschaftlichen Wohnens errichteten, Wohnbau. Peter Reischer besuchte ihn in Linz und zwischen Plastik-WC-Zellen, riesigen Gummibäumen und Bürotischen unterhielten sie sich über die Schwierigkeiten dieser Wohnform und die Verbindungen zu unserem Gesellschaftssystem.

 

Herr Architekt Matzinger, Ihre Projekte nennen Sie ‚Palétuviers‘, wie ist der Name entstanden?

Es gibt eine spezielle wunderschöne Art Mangrovenbaum an der Elfenbeinküste Westafrikas. Dieser Baum kommt mit vielen Wurzeln aus der Erde, bildet nach 3-4 m einen Stamm, um dann in einer schönen Krone seine Pracht zu entfalten. Die Entstehung meiner Entwurfsidee ist dort passiert. 

 

War das das prägende Erlebnis für Sie, um sich vom normalen Wohnbau weg, zu Ihren Konzepten des gemeinschaftlichen Bauens zu wenden?

Ja, sicherlich. Wenn man in Westafrika in ein Dorf kommt, sieht man die zentrale Feuerstelle, den sogenannten Schattenbaum und rundum die Hütten der einzelnen Bewohner. Die Kleinkinder sind nicht – wie bei uns – alleine von den Eltern abhängig. Sie werden mit den anderen Kindern sozusagen ins soziale Leben hineingezogen. Da entsteht eine ganz natürliche, selbstverständliche Sozialisation. Ich habe dort sofort das starke, intakte soziale Gefüge gespürt. Dort braucht es keinen Kindergarten, kein Altersheim ..., die ganze Segregation, die wir bei uns kultivieren, gibt es dort nicht.

Ich habe 14 Tage später den Entwurf fertig gehabt und ein Monat später habe ich mittels einer Zeitungsannonce die mögliche Zustimmung Gleichgesinnter abgecheckt und anschließend in einer Veranstaltung anhand von Plänen, Modell und Kostenschätzung das Projekt präsentiert.

 

Wieso kennt man Ihre Projekte und Ansätze in Österreich so wenig?

Ich habe damit kein Problem, ich muss auch immer lachen, wenn ich höre, dass in Aspern jetzt über gemeinschaftliches Wohnen geredet wird - mein erstes Projekt in Wien entstand in Aspern, es ist inzwischen über 25 Jahre alt und funktioniert. Prof. Vielhaber von der UNI Wien hat sogar eine Forschungsarbeit darüber gemacht. 

 

Was können oder wollen Sie über Architektur sprechen?

Es geht mir um das, was Adolf Loos gemeint hat, wenn er dagegen wettert, dass vielfach die Architekten den Verlockungen erliegen, Architektur als Kunst zu verstehen. Es gilt aber vielmehr im Wohnbau zu erkennen, was in diesem intimsten Lebensbereich der Menschen die wahren Bedürfnisse sind – und die sind vorrangig zu erfüllen. 

 

Halten Sie die Ansicht, dass der Architekt Bedürfnisse erfüllen soll, für richtig?

Im Wohnbau ist unsere Aufgabe nicht die, Baukunst zu machen, sondern einen qualitativ optimalen Rahmen für die Bewältigung des Lebens zu schaffen. 

 

Gibt es zahlenmäßige Größenbeschränkungen für derartige Projekte, für Ihre Palétuviers?

Also für 100 oder mehr Familien geht das nicht. Die Grenze ist bei ca. 30 Familien. Es gibt auch eine Untergrenze - bei den Langhäusern auf Borneo gibt es eine Regelung, dass ein Langhaus nicht weniger als 10 Türen haben darf, also 10 Familien. 

Das Projekt ‚Guglmugl‘ hat bei der Besiedlung 100 Personen, das sind 32 Familien umfasst und funktioniert optimal.

In Berlin hatten wir für 600 Bewerber nur 21 Wohnungen. Da haben wir zusammen mit einer Psychologin einen Filter eingebaut und die Leute haben sich selbst getestet. Ein erster Rundbrief hat die Menschen mit den Aufgaben, die auf sie zukommen, konfrontiert - da ist die Hälfte bereits abgefallen.

 

Ist das fast eine Art psychotherapeutischer Prozess?

Ja, die Teilnehmer müssen selber erkennen, was auf sie zukommt. Bei diesen Diskussionsrunden ist man als Architekt ganz weit weg, im Hintergrund.

 

Wie sieht es bei solchen Projekten mit Wohnbauförderung aus?

Ich habe kein Problem damit, mittlerweile bekomme ich die Wohnbauförderung dafür auch.

Die ersten beiden Siedlungen haben wir noch völlig ohne Wohnbauförderung gemacht. 

 

Wie hat sich die Wirtschaftlichkeit über die Jahre hin entwickelt?

Damals wurde in ca. 300 Meter Luftlinie gerade eine Siedlung nach konventionellen Grundlagen erbaut. Im Vergleich dazu haben wir zu den halben Baukosten die erste Siedlung errichtet. Wirtschaftlich zu bauen war unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten (Raumzellenbauweise, Fertigbäder etc.) und bei minimaler Bauzeit (6 Monate) möglich. Die Baukosten habe ich der Bauherrngruppe auch tatsächlich garantiert und eingehalten.

Heute haben sich die Wünsche der Bauherrn stark verändert, erweitert und die technischen und bauphysikalischen Anforderungen sind in enorm hohem Ausmaß gestiegen. Heute werden die Siedlungen zu den normalen Kosten des sozialen Wohnbaus errichtet, wenngleich die Gemeinschaftsräume auch immer ohne Mehrkosten mitfinanziert werden können.

 

Würden Sie die Wohnform, die Sie mit Ihren Bauten anstreben, als eine ‚sanfte‘ Kritik an unserer Gesellschaft sehen?

Wenn nach Churchill gilt, dass wir unsere Häuser formen und dann die Häuser uns formen, wie kann man da kritiklos bleiben. Die Kritik richtet sich gegen eine Gesellschaft der Vereinzelung, der Abgrenzungen, der totalen Individualisierung. Gesellschaftlich wie architektonisch ist das Ensemble ein Fremdwort.

 

Was haben wir heute für eine Gesellschaft?

Eine total abgeschlossene, individualistische Gesellschaft. Hohe Zäune, Videoüberwachung an jeder Ecke und Haustüren mit Spion. 

 

Das Zitat von Ernst Bloch, das Sie einmal verwendet haben - „Erst die Anfänge einer neuen Gesellschaft ermöglichen wieder echte Architektur“ - ist eigentlich eine Ansage gegen die heutige Architekturauffassung?

Ich sehe das eigentlich im Hedonismus, diese totale Hinwendung zum Egoismus. Und zwar aus dem Grund, weil es für die Politik der einfachste Weg ist. Wenn ich alle in unendlich viele einzelne Einheiten zerteilt habe - kann ich die Menschen leicht steuern. 

 

Mit Egoismus meinen Sie den Individualismus, die Tatsache, dass wir auf der Erde 7 Milliarden Individualisten haben?

Ja, zumindest in der westlichen Welt halten sich alle dafür. Leider wird Demokratie und Individualismus irrtümlicherweise für kompatibel gehalten. Was die ‚Charta von Athen‘ 1933 gefordert hat, ist längst vergessen: „Die Stadt muss auf geistiger und materieller Ebene sowohl die Freiheit des Einzelnen als auch das Interesse des Gemeinwohls sichern. Allen städtebaulichen Planungen ist der Maßstab des Menschlichen zugrunde zu legen”.

 

In welche Richtung soll sich unsere Architektur ändern?

Wir haben als Architekten eine gesellschaftliche Mitverantwortung und müssen erkennen, dass wir die Segregation unserer Gesellschaft (Kinderkrippe, Kinderhort, Kindergarten, Asylantenheim, Altenheim, Behindertenheim etc.) nicht mehr lange finanzieren können. Wir brauchen neben Architekten mit Energiesparsinn vielmehr auch solche, die es verstehen, die soziale Wärme in der Gesellschaft wieder erlebbar werden zu lassen.

Es muss auch endlich Schluss damit gemacht werden, das zu Stein gewordene Symbol der Individualisierung, das frei stehende Einfamilienhaus steuerlich in jeder Hinsicht zu fördern, enorme Verkehrsströme damit zu verursachen und unsere Landschaft unwiederbringlich zu zerstören. Man muss den Menschen die Augen öffnen, sehen zu lernen, wie unendlich hässlich diese Einfamilienhauswüsten unserer Vorstädte sind, und wie sehr diese Siedlungsform unseren Kindern zu ihrem Nachteil gereicht.

 

Wohin soll sie sich ändern?

Es müssten - so wie in skandinavischen Ländern - Bauausstellungen gemacht werden. Mit dem Geld, das die üblichen Baumessen verschlingen, wäre das leicht zu bewerkstelligen. Exemplarische Wohnbauten sollen errichtet werden, die dort das erste Jahr kostenlos Wohnenden müssen dafür ein Jahr das Haus öffentlich zugänglich halten. Das muss wie eine Messe florieren. Das muss auch so publiziert werden, so wie z. B: die Energiesparmesse.

Das Energiesparen, das kann man berechnen, das wird gemacht. Aber es gibt keinen Bauträger, der kommt und sagt, er will ein gemeinschaftliches Wohnen, und daher sind diese Wohnmodelle weitgehend unbekannt und finden in empirischen Erhebungen überhaupt keinen Niederschlag.

 

Sie wohnen in dem ersten von Ihnen erbauten Wohnbau, würden Sie heute wieder so bauen?

Ja, sicherlich, wenn es nur die Baubehörde auch zulässt. Für die Baubehörde wird das Atrium (zwischen den Wohneinheiten) neuerdings als Stiegenhaus deklariert, das muss gegen die Wohnungen brandsicher sein, selbstschließende Brandschutztüren und all den Schwachsinn - man braucht ein Brandschutzkonzept, einen Experten um aus diesem reglementierten OIB-Schlamassel wieder herauszukommen.

 

Also ist die Bauordnung sehr unflexibel?

Es wird immer bürokratischer, man wird bei den Gedanken und Prozessen, die man verfolgt, ununterbrochen behindert. Das ist schon sehr nervend, es genügt ja ohnehin sich mit Grundbesitzern, Bürgermeistern, Gemeinderäten, Baufirmen auseinandersetzen zu müssen. Das wäre schon genug! Projekte scheitern laufend an einer dieser Stationen. 

 

 

Lebenslauf:

1941 in Michaelnbach (Oberösterreich) geboren

1955-1960 Höhere Technische Lehranstalt in Linz

1960-1965 Studium an der Technischen Universität in Wien (Prof. Schwanzer, Feuerstein, etc.), Diplom

Anschließend Büroleiter im Architekturbüro Donau in Wien.

Seit 1971 eigenes Büro in Linz. Mehrere Studienreisen (Wohnformen in der 3. Welt) nach Afrika und Asien. 

1974 Realisierung des auf eigene Initiative und Kosten entwickelten Forschungsprojektes „Les Palétuviers“ in Linz-Leonding.

Seit 1976 Folgeprojekte in Österreich und Deutschland 

1983 Hauptpreis bei Weltbiennale Sofia

1985 7. Internationaler Preis für Architektur, Utrecht

1996 erhält das Wohndorf Offenau den mit 100.000 DM dotierten Preis der „Karl Kübel Stiftung“ 

2000 EU Preis Agenda 21, Dresden

2002 Familien „Oskar”

2012 Daidalos-Preis, womit das soziale Wohnkonzept für das Obdachlosenheim in Steyr B29 eine hohe Anerkennung erhält.

William Knaack