Venedig 2012

Die Architektur-Biennale in Venedig oder wie man ein Thema verfehlen kann.

Die Eingangsfrage, die in dem Bericht der Süddeutschen über die Architekturbiennale in Venedig gestellt wird - ‚Was machen berühmte Architekten in Zeiten der Staatsschulden?‘ - verlangt nach einer Differenzierung: ‚Warum machen die berühmte Architekten in Zeiten wie diesen nichts, außer an das Eigene zu denken?‘

Eigentlich gibt die Biennale die Antwort darauf selbst, und zwar in Form einer Aussage des Kurators David Chipperfield. Sein verkündetes Motto ‚Common Ground‘ wäre doch als Begriff bestens geeignet, um der werten Architektenschaft einen Leitfaden und Anreiz zu geben, über gemeinsame Lösungen und Auswege der globalen Krisen nachzudenken. Noch dazu, wo die Architektur - als die umfassendste aller Künste - einen Spiegel des Zustandes einer Epoche und einer Gesellschaft darstellt. Auf meine Frage bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Biennale, warum denn keine sogenannten ‚Outlaws‘ oder die NGOs der Architekturszene in der Ausstellung im Arsenal zu finden seien, warum wieder nur die sattsam bekannten Stars der Szene ‚business as usual‘ betrieben, kam die Antwort: ‚Weil das eine Architekturausstellung ist!‘

Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: 

Erstens weil sie eine erschreckende Präpotenz und Hybris offenbart, sie erweckt fast den Anschein einer kolonialistischen Haltung - wir sind die Herren und wir bestimmen, was gezeigt wird. Also keine Spur des vom ‚Der Standard‘/Österreich attestierten britischen Understatement. Zweitens zeigt sie, dass auch Chipperfield das Thema nicht verstanden hat oder gar nicht verstehen wollte. Die Biennale der Architektur ist nicht der Ort der Selbstbespiegelung und Selbstbeweihräucherung für Stars. Sie sollte neue Tendenzen zeigen, neue Wege vorschlagen und zum Denken anregen. Insofern hat Chipperfield als Kurator versagt. Noch dazu wo die von ihm eingeladenen Kollegen diejenigen sind, die jeden Tag mit ihren Werken den ‚Common Ground‘ vernichten. Sind Architekten, ist die Architektur nur noch an sich selbst interessiert? Wenn man die Ausstellung durchwandert drängt sich der Eindruck einer völlig an der Realität und Bedeutung des Themas ‚Common Ground‘ vorbeigehenden Show auf. Mit wenigen Ausnahmen: Eine ist allerdings so beeindruckend, dass es sich schon ihrer wegen lohnt die Biennale zu besuchen. Es ist das Projekt ‚Gateway‘ von Norman Foster, Carlos Carcas und Charles Sandison, gleich im zweiten Raum der Ausstellung. Im völlig abgedunkelten Raum fließen entlang von zwei Säulen unendliche weiße Pixelströme zu Boden (Metapher). Durchmischt mit tausenden Namen von Architekten und Künstlern der Vergangenheit und Gegenwart. Sie tauchen auf, wandern über den Boden und die Zuschauer und verschwinden wieder. An den Wänden werden in einer teils stakkatoartigen Geschwindigkeit riesige Projektionen von allen Möglichkeiten des ‚Common Ground‘ gezeigt: Menschen in der Stadt, bei der Freizeit, Religion und Kultur, Architektur, Hunger, Katastrophen, Demonstrationen, Krieg, Revolution, Sport, Plätze und Straßen, Bekanntes und Unbekanntes - alles strömt auf den Betrachter ein. Begleitet von einer Mischung aus synthetischen und realen Klängen und Tönen. Es ist eine erzählerische, lyrische und packende Darstellung die das Innerste des Menschen berührt. Nicht umsonst verharren Besucher wie erstarrt in diesem Raum. Er regt zum Nachdenken und Reflektieren an. Das ist ‚Common Ground‘! Die weiteren Räume widmen sich den schon erwähnten Selbstdarstellungen der Egos: Herzog & de Meuron bekleben geschätzte 150 m2 Wandfläche mit sämtlichen - überdimensional vergrößerten - Zeitungsberichten von ‚ihrer‘ Elbphilharmonie in Hamburg. In der Mitte des Saales schweben riesige Raummodelle. Zaha Hadid füllt einen (ihrer Berühmtheit entsprechenden) Saal mit unzähligen Modellen ihrer computergenerierten Raumkonstruktionen/-modelle. Sie wirken wie aufgeblasene Spinnengewebe - durch die Menge wird auf einmal die Gleichheit und die Austauschbarkeit der Bilder und Formen sichtbar. Das interessanteste daran ist ein Video das eine Art Erdbebensimulation zeigt. Hier sieht man eines dieser digitalen Konstrukte in tausende, gleiche Einzelteile wieder zerfallen. Hans Kollhoff überschwemmt den Raum mit lauter Modellen seiner (und seiner Studenten) Fassadenstudien. Er nennt sein Projekt ‚Tektonik - Morphologie städtischer Fassaden‘. Bitte wo ist da der ‚Common Ground‘? Ein weiterer Tatbestand fällt beim Durchschreiten der Ausstellungen auf: Die Architekten haben fast ausnahmslos die Fähigkeit zu einer ansprechenden, verständlichen Präsentation ihrer Ideen verloren. Vielleicht ist das auf die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt zurück zu führen. Denn wie soll man es sonst verstehen - dass offensichtlich am Bildschirm entwickelte Diagramme und Illustrationen - einfach auf A0 und noch größer explodieren, ohne Rücksicht auf die proportional veränderte Wahrnehmbarkeit durch den Betrachter? Die meisten der gezeigten Projekte sind selbst für einen fachkundigen Architekten völlig unverständlich aufbereitet und dargestellt. Manch Beitrag mutet wie die Vergrößerung eines Wohnbauwettbewerbes aus einer Gemeindezeitung an - Fassadendetails, Schnitte, Grundrisse gemischt in einer willkürlichen Reihenfolge mit Diagrammen und Videos die den Besucher nur verwirrt das Weite suchen lassen. 

Zur Ehrenrettung der Ausstellung muss aber auch gesagt werden, dass es einige ‚leisere‘ Projekt (vor allem in den Länderpavillons am Giardini) gibt, wie zum Beispiel das Projekt der Deutschen, dass sich sehr eindrucksvoll aber reduziert mit der bereits gebauten Umwelt unter dem Titel ‚Reduce, Reuse, Recycle‘ (Kurator Muck Petzet) auseinandersetzt. Oder das auch optisch sehr gut präsentierte Projekt der Franzosen, die sich mit den Problemen der eigenen, wuchernden ‚suburban villages‘ der Pariser Vorstädte beschäftigt und eine Lösung für die dort entstandenen sozialen Probleme sucht. Japan zeigt in seinem - zu Recht  mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten - Pavillon den Versuch mit einfachen, fast archaisch wirkenden Modellen dem Trauma der Bewohner, der durch die Tsunami und Atomkatastrophe verwüsteten Landschaft, entgegen zu wirken. Ein zu tiefst erschütternder Versuch durch Reflexion über die eigenen Fehler zu einem neuen Überlebenswillen und einem ‚Common Ground‘ zu finden. Bis jetzt von allen unterschätzt oder unverstanden ist die Dimension und ungeheure politische Aussage des Projektes der Russen. Ihr Projekt des neuen ‚Innovation Center Skolkovo‘ wird als sogenannte i-city präsentiert: Der erste Stock (Eingangsebene) des Zentralbaues (Kuppelsaal mit zwei Nebenräumen) ist komplett mit teilweise hinterleuchteten, ca. 50 x 50 cm großen QR Codes versehen. Diese können mit zur Verfügung gestellten Tablets mit Touchscreen eingescannt und gelesen werden. So offenbart sich die gesamte Infrastruktur dieses Prestigeprojektes der russischen Regierung. Diagramme, Visualisierungen, Strukturpläne samt ausführlichen - leicht verständlichen - Erläuterungen und noch vieles mehr sind in diesen verschiedenen QR Codes verborgen, und mittels Digitalisierung jedem zugänglich. Im Untergeschoss hingegen sind auf derselben Fläche in schwarzen Räumen hinter kleinen Glaslinsen Fotos - der zur Sowjetzeit für die Öffentlichkeit verbotenen Wissenschaftsstädte und Atomanlagen etc. - zu sehen. Zwar auch digital, aber völlig entfernt vom Thema ‚Commom Ground‘ bespielen die Österreicher den Hoffmann Pavillon. Die Nichtbezugnahme auf das allgemeine Thema wurde auch bei der österreichischen Pressekonferenz offiziell zugegeben. Virtuelle, überlebensgroße mit tatsächlichen Personen überlagerte (entmenschlicht wirkende) Figuren bewegen sich auf den Wänden in teilweiser Interaktion mit manchen Besuchern. Die Frage, wie man bei einem Thema des ‚common = gemeinsam‘ so weit wegkommen kann, müssen sich Kurator und Künstler wohl gefallen lassen. 

Auch das ist ‚Common Ground‘.

mag. arch. Peter Reischer hat Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien studiert, ist Architekturkritiker und freier Journalist in Wien, seit 2010 leitender Redakteur von ‚Architektur‘, Österreichs auflagenstärksten Fachmagazin für Architektur. Er schreibt u.a. für den Falter und die NZZ.

William Knaack