LEIDENSCHAFT UND PROFESSION

Erschienen im Magazin BerührungsPUNKTE / 30. September 2015 / in Magazin 28

 
© Sebastian Schubert

© Sebastian Schubert

Für den Begriff Leidenschaft gibt es jede Menge Definitionen. Eine davon sieht Leidenschaft als starke Vorliebe für eine Aktivität, ein Objekt oder ein Konzept. Leidenschaft kann sich also auf eine bestimmte Aktivität beziehen, wie beispielsweise Architektur oder Design, man kann aber auch Leidenschaft für eine Person oder ein Objekt, beispielsweise eine Briefmarkensammlung entwickeln. Daraus kann man schließen, dass Leidenschaften und Emotionen miteinander in Verbindung stehen. Leidenschaft bedeutet Wertschätzung, sich zu einem Objekt oder einer Aktivität hingezogen zu fühlen, bedeutet aber auch, emotional angreifbar zu sein. Trotz dieser Verbindung zwischen Leidenschaft und Emotion sind die beiden nicht identisch. Bereits Kant meinte, dass Emotionen etwas Vergängliches sind, die nur für den Moment gegeben sind, während Leidenschaften etwas Stabileres sind, denen normalerweise längerfristig und regelmäßig nachgegangen wird. Das Architekturbüro gaupenraub+/- ist durch das Projekt „VinziRastMittendrinn“ bekannt geworden, ein architektonisches Projekt, das mit sehr viel Leidenschaft realisiert wurde. In diesem umgebauten Biedermeierhaus in Wien leben Obdachlose mit Studenten unerwartet gut zusammen, im Erdgeschoss ist ein stark besuchtes Lokal eingerichtet. Das Projekt ist 2013 in Berlin mit dem europaweit ausgeschriebenen URBAN LIVING Award 2013 ausgezeichnet worden.

Peter Reischer besuchte einen der Gründer des Büros, Alexander Hagner in seinem Atelier, einem ehemaligen Stadtbahnbogen in Wien und knapp 4 Meter unterhalb der vorbeidonnernden U-Bahn-Züge, unterhielt er sich mit ihm über Leidenschaft und Architektur. 

 

Herr Hagner, ist Leidenschaft für Sie ein positiv oder negativ konnotierter Begriff?

Ich bin weit von masochistischen Sehnsüchten entfernt, ich bin ein sehr harmoniebedürftiger Mensch. In Leidenschaft steckt zwar auch das Leiden drinnen und trotzdem ist es für mich positiv besetzt. Mein ganzes Leben lang habe ich entweder alles ganz, oder gar nicht gemacht. Wenn ganz - dann gehört das Leiden auch dazu. 

Der Spaßfaktor soll in meinem Leben aber auch vorkommen. Als ich nach Wien gekommen bin - ist mir das ewige ‚Raunzen und Sudern‘ der Wiener aufgefallen. Ich schätze ja die Architekten Hollein oder Richter sehr, aber wenn man deren Gesichter einmal (in einem scheinbar unbeobachteten Zeitpunkt) betrachtet hat - das sah fürchterlich aus. So möchte ich nie - aufgrund meines Lebens - ausschauen müssen.

 

Leidenschaft wird in unserer Gesellschaft meistens mit Liebe, mit Erotik in Verbindung gebracht. Womit verbinden Sie den Begriff?

Ich verbinde das mit 100 Prozent, mit vollem Engagement, mit jeder Faser meines Körpers.

 

Und wenn Sie als Architekt Leidenschaft definieren?

Auch in dem Sinn: Das mache ich ganz oder ich lasse es bleiben. Aber natürlich verbinde ich es auch damit, mehr zu bringen als verlangt wird. Die Idee, den eigenen Ansprüchen genügen zu müssen beinhaltet, dass diese leider (oder oft) höher als die Ansprüche des Auftraggebers sind. Das wird dann auf der wirtschaftlichen Seite manchmal etwas schwierig, aber ich könnte nie sagen: „Die Zeit oder das Geld ist aus - wir schließen das jetzt so ab!“

Erst wenn ich das Gefühl habe, meine Ansprüche sind erfüllt - ist es gut.

 

Wie sehr werden Sie, als Architekt von Ihrer Leidenschaft getrieben und wo treibt Sie das hin?

Wenn wir über Leidenschaft reden, ist das etwas sehr tief gehend Menschliches und wohl auch etwas Unprofessionelles. Wenn ich in gruppendynamischen Prozessen etwas sehr leidenschaftlich möchte oder vertrete - bin ich auf einmal den Anderen suspekt, die werden misstrauisch. Je weniger ich nach außen zeige, dass ich persönlich, als Mensch mit allem was ich zu bieten habe, interessiert bin, desto besser. Das habe ich sogar im privaten Freundeskreis gemerkt, und im Beruflichen sowieso. Desto leidenschaftlicher man ist, desto mehr Skeptiker erzeugt man auf der anderen Seite.

 

Für Plato war die Mäßigung der Leidenschaft eine der Kapitaltugenden ...

... und ich kann sehr gut nachvollziehen, warum! 

 

... und Aristoteles wiederum sagte, dass die Menschen zu ihrer Leidenschaft stehen sollen und sich dafür nicht zu schämen brauchen. Wichtig sei nur, dass die Leidenschaft von der Vernunft kontrolliert wird, damit sie Positives statt Negatives bewirkt. Kann man das alles so kontrollieren?

Das klingt jetzt alles sehr nach Ratio. Leidenschaft hat für mich mehr mit dem Bauch zu tun. Ich merke zunehmend, wie mein Bauchgefühl - mit zunehmendem Alter - richtiger wird als manche Sachen, die ich mit dem Kopf entscheide. Und zwar, wenn ich in unserer schnelllebigen Zeit die Gelegenheit habe, das nochmals zu kontrollieren, darüber zu schlafen - dann merke ich, dass der erste Impuls gar nicht so schlecht gewesen ist.

Bei unseren Sozialprojekten ist Leidenschaft noch mehr gefragt, die sind sinnstiftend, weil es um den Kern des menschlichen Daseins geht. Dort wo es um existenzielle Probleme geht und Architektur ein Teil der Antwort sein kann, wird es extrem spannend. Da ist die Leidenschaft ein Faktor, den man nicht ausblenden darf.

 

Sehen Sie Leidenschaft auch als eine identitätsstiftende Eigenschaft?

Ganz sicher! Ich kann das anhand meiner vielen Vorträge bestätigen. Oft bin ich ja nicht der einzige Vortragende, ich bewerte auch die Vorträge der anderen, um daraus zu lernen, Strategien zu entwickeln, was ich besser machen könnte. Gerade bei meinen deutschen Kollegen habe ich das Gefühl, die haben ihr Projekt sozusagen zwischen zwei Fingern hängen und dann reden sie darüber - sehr professionell, fast auch akademisch. Bei mir und auch bei anderen österreichischen Kollegen habe ich das Gefühl, wir haben unser Projekt im Arm, wie ein Baby, und so sprechen wir auch darüber. Zwischen dem Gefühl zu dem Projekt, zu dem, was ich tue und mir - ist keine Distanz sondern Identifikation.

Mir ist es lieber, ich habe einen leidenschaftlichen Menschen vor mir, eher ein bisschen zu unkontrolliert als zu kontrolliert. Ich mag gern das ‚Pure‘. Gerade bei der jetzt laufenden Asyldiskussion, da muss man sich ja wahnsinnig einbremsen, um nicht übergriffig zu werden. Wenn ich meine Arbeit - so wie Politiker es tun - machen würde, wäre ich schon längst arbeitslos. 

 

Stellen Sie durch Leidenschaft eine Verbindung vom Auftrag zu Ihrer eigenen Person her?

Ja, ich ziehe aber auch förmlich Projekte an, die sozial schwierig sind, in die man 100% eintauchen muss. 0815 interessiert mich nicht! Was unser leidenschaftliches Arbeiten - und damit meine ich das ganze Büro - anbetrifft, ist das auf der wirtschaftlichen Seite natürlich ein Problem. Ich will aber nicht zwischen leidenschaftlich und professionell polarisieren. 

 

Es gibt einen Kalauer: Leidenschaft schafft Leiden - welche Leiden schafft die Leidenschaft?

Dass man sich eben nicht distanzieren kann, dass man sich nicht zurückziehen kann!

 

Das heißt, Sie nehmen Ihre Arbeit mit, trennen nicht zwischen Freizeit und Arbeit?

Ja! Wenn ich an einer Verglasungslösung für ein Projekt arbeite, untersuche ich bei jedem Haus, bei jeder Fassade, bei denen ich vorbei gehe, die dort angewendete Lösung und lerne daraus.

 

Kostet Leidenschaft Energie oder bringt sie Energie?

Sowohl als auch. Ganz sicher bringt es Energie, da man sozusagen mit aufgestellten Haaren, hoch motiviert sich mit einer Sache beschäftigt. Andererseits ist man am Abend völlig fertig. Helle Feuer brennen eben kürzer. 

Wenn dann aber natürlich ein Vorschlag, den man erarbeitet hat, vom Auftraggeber abgelehnt wird, ist es schwerer die Niederlage einzustecken.

 

Hat Leidenschaft auch manchmal mit einem Fiasko geendet?

Sicher, so wie ich zuerst über Meinungsbildungsprozesse gesprochen habe - habe ich schon Verluste erlitten, weil ich zu leidenschaftlich mein Statement, mein Wollen preisgegeben habe. Wenn man sein Herzblut vergossen hat, kann man auch nicht mehr zurückfahren. 

Wenn ich mit jungen Menschen an Architektur arbeite - das geht gar nicht ohne Leidenschaft. Als Lehrer, oder jemand, der ein Thema zu vermitteln versucht, kann ich mich eher ‚gehen lassen‘ im Sinne von Leidenschaft, als wenn ich in der Bauverhandlung sitze. Wenn ich in der Lehre authentischer bin, da ist das niemandem suspekt. Wenn ich einen Vortrag halte, oder mit Studenten arbeite, ist Leidenschaft zum Glück mehr gefragt. 

 

Leidenschaft ist unprofessionell?

Ja, in unserem Kulturkreis leider schon. Im eigentlichen Sinn will ich das aber nicht wahr haben. Wenn ich mir aus zwei Handwerkern - einer mit Herz und Seele und der andere mit Kopf und Fortbildungszertifikaten - einen aussuchen soll, nehme ich den Ersteren. Das ist sonst in unserer Kultur im Bereich des Berufes nur selten so, im Privaten wird einem die Leidenschaft viel höher angerechnet.

 

Hängt Leidenschaft für Sie bei einem Projekt mehr mit Menschen zusammen oder mit Dingen?

In meinem Beruf habe ich Werkzeuge, die ich mit voller Kraft, mit voller Schärfe, mit allem, was mir zur Verfügung steht, einzusetzen habe - das ist mein Anliegen, mehr habe ich nicht. Bei einem Lagergebäude werde ich vielleicht nicht ganz so leidenschaftlich sein, also hat das wohl mit den Menschen zu tun, für die ich arbeite. Andererseits ist das Objekt, das Gebaute das Einzige, das mir zur Verfügung steht. In politischer, sozialer, wirtschaftlicher Verantwortung, vor dem ganzen Hintergrund. Das Objekt ist nie der Selbstzweck, ich will mir nur nicht vorwerfen müssen - da hätte ich mehr erreichen können oder sollen.

 

Sie sind mit dem Projekt „VinziRastMittendrinn“ zufrieden?

Ich bin sehr glücklich über das Ergebnis, das hätte ich nie erwartet. Wir haben aber auch alles geboten, was möglich war - mehr geht an dem Ort, mit diesem Bestand, in dem Kontext nicht. Ich bin voll zufrieden!

 

Goethe hat gesagt: „Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung – was sie heilen könnte, macht erst recht gefährlich.“ Würden Sie dem zustimmen?

Bei diesem Zitat denke ich zuerst an Menschen - da stimmt das völlig. Im Büro, im Arbeitskontext ist es gut, wenn man sich auf einen professionelleren Standpunkt zurückziehen kann, wenn es zu gefährlich wird. Ich glaube, in der Arbeitswelt ist es daher weniger gefährlich als im privaten Bereich. Aber Leidenschaft lässt einen immer weiter wollen, immer mehr anstreben. Leidenschaft bringt den Menschen leichter an existenzielle Grenzen, sowohl im Beruf wie auch bei Beziehungen.

 

 

Alexander Hagner, geb. 1963 (D) absolvierte nach der Matura eine Tischlerlehre, anschließend das Architekturstudium an der Universität für angewandte Kunst/Wien, Meisterklasse Prof. Johannes Spalt und Meisterklasse Prof. Wolf D. Prix (Coop Himmelb(l)au). Seit 1997 arbeitet er selbstständig in Wien, 1999 gründete er das Büro gaupenraub+/- gemeinsam mit Ulrike Schartner.

Ulrike Schartner, geb. 1966 (A) studierte nach dem Abschluss eines Kolleg für Innenausbau und Möbelbau Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien, Meisterklasse Prof. Johannes Spalt und Meisterklasse Prof. Wolf D. Prix (Coop Himmelb(l)au) sowie an der KTH/Stockholm. Seit 2000 ist sie selbstständig in Stockholm und Wien tätig.

Da sich die beiden Bürogründer Alexander Hagner und Ulrike Schartner von Beginn an zugunsten sozial engagierter Projekte weigerten, an offenen Wettbewerben teilzunehmen, bestanden die ersten Arbeiten überwiegend aus kleineren aber zumeist realisierten Direktaufträgen aus den Bereichen Design, Innenarchitektur und vor allem Sanierungen, Um- und Zubauten. 2006 erfährt diese Arbeit mit der Auswahl von gaupenraub in die erste Staffel von Young Viennese Architects (YoVA1) erstmals eine größere öffentliche Resonanz.

Inzwischen wurden Projekte von gaupenraub z. B. mit dem Architekturpreis des Landes Burgenland 2010 und dem ETHOUSE Award 2011 ausgezeichnet, zum Mies van der Rohe Award 2011 nominiert, in Berlin mit dem europaweit ausgeschriebenen URBAN LIVING Award 2013 und mit dem Bauherrnpreis 2014 gewürdigt.

William Knaack