VENEDIG 2016

 Das Ende des Architekturestablishments

 

„Architektur gibt den Orten, an denen Menschen leben eine Form. Solange diese Form nicht die Basisbedürfnisse eines Großteils aller Menschen auf der Welt abdecken kann, ist das Entwerfen von Architektur nur Unterhaltung.“ 

Alejandro Avarena, Venedig 2016

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Es ist eigentlich irrelevant, was man als Besucher, Architekt, Journalist oder Kritiker über die diesjährige Architekturbiennale in Venedig denkt und schreibt - sie bedeutet auf jeden Fall einen Bruch in der Geschichte der Architektur und deren Biennalen. Es kündigt sich eine Zeitenwende an, ein Ikonoklasmus der Landmarks, der Abgang der Stars und das Verschwinden von imageträchtigen Stilen. Der Bilbao-Effekt des Guggenheimmuseums ist ja schon seit dem Platzen der großen Immobilienkrise im Jahr 2008 Geschichte und nun sind es die Stararchitekten ebenfalls. Der chilenische Architekt Alejandro Aravena ist ein Weichensteller und er hat eine neue Richtung vorgegeben. Man könnte ihn beinahe als Lichtgestalt bezeichnen, weil er mit „Reporting from the Front“ die Architektur endlich dorthin bringt, wo sie schon lange sein sollte: in die wirkliche Realität, an die Front zu den Menschen. Dorthin wo der Mensch noch als Einzelwesen eine Bedeutung hat, wo das Wohnen - shelter als ursprünglichste Bedeutung der Architektur - seinen Anfang nahm. Diese Biennale stellt eine Zertrümmerung der gewohnten Szene dar, nachher wird nicht mehr so sein wie zuvor. Es macht auch wenig Sinn, in den Analen, Themen oder Verfehlungen der vergangen Biennalen zu wühlen, Vergleiche zu suchen - mehrere Kuratoren hatten sich schon an eine Erneuerung der Szene gewagt, -allein, scheinbar war die Zeit nicht reif dafür. Jetzt ist sie es: Bürgerbewegungen, Krisen, Kriege und Migrationsprobleme haben den Boden bereitet. Aravena fokussiert sich in seinem Thema auf die größten Probleme unserer Welt, unserer Gesellschaft: Das beinhaltet Verbrechen, Segregation, Abfall, Wohnraumverknappung, Verkehr und Umweltschäden genauso wie Technikhörigkeit und Effektivitätswahn. Aber er hat die Gunst der Stunde nicht nur jetzt im Moment, sondern schon jahrelang genutzt. Seine „soziale“ Architektur in Lateinamerika hat ihm - unter anderem zum Pritzkerpreis 2016 befördert. Auch die Entscheidung des Preisjury, einen knapp 48-jährigen in die Reihe der (im Schnitt) über 65-jährigen Preisträger einzufügen, zeigt von einer bewussten oder auch unbewussten Vorwegnahme einer Revolution, eines Wandels. Die Menschen haben das Alte - nicht nur in der Politik - satt. Die Tendenz und Absicht der Biennale kam auch in der von Aravena, bei der Eröffnungspressekonferenz im Teatro Piccolo gehaltenen Rede, klar zum Ausdruck. Sinngemäß formulierte er, dass es bei der Ausstellung nicht um Quantitäten und Größen, sondern um die Qualitäten der Besuche ginge. So erhalten auch die vielen, klein geschriebenen Texte und Erläuterungen auf den einzelnen Erklärungstafeln einen anderen Sinn. Es waren übrigens einfache Kartontafeln in A3-Größe, mittels eines Loches auf einem 10er Baustahlstab, der wiederum in einem Lochziegel steckte, angebunden und aufgehängt. Minimaler Aufwand mit maximaler Wirkung. Der Besucher soll Wissen beim Durchschreiten der Ausstellung erhalten, nicht Erlebnisse genießen. Dem Kurator ist offensichtlich der Prozess wichtiger als das Resultat. Deshalb beginnen auch die Texte bei den Projekten - wohlweislich - mit „The work of ... in ...“.  Auch die Eröffnungs- oder Eingangshalle in das Arsenale ist ein kräftiges Statement zur Zeit, zur Nachhaltigkeit: 14 Kilometer von Aluminiumstreifen hängen - mehr oder weniger - verbogen von der Decke herab. 10.000 Quadratmeter kunstvoll zusammengefügter Reste von Gipskartonplatten bilden die Wände. Dieses Material ist wiederverwertetes Abbaumaterial der vorigen Biennale, insgesamt 100 Tonnen Abfall. Es geht ihm nicht - so seine eigenen Worte - um einen absoluten, sondern um den relativen Erfolg, diesen will er durch die Auswahl der Teilnehmer erzielen. Er betonte, dass er bei deren Auswahl keineswegs große Namen und Architekten ausschließen haben wolle - sie seien willkommen, solange ihre Projekte Wissen und Intelligenz enthielten. Die (wenigen) großen Namen, die man in Venedig trotzdem finden konnte, fügen sich auch in das Gesamte, in die Richtung, die Aussage des Gros der Teilnehmer ein. Ihre Beiträge waren - vergleichsweise, vom Aufwand (nicht vom Inhalt) gesehen - eher bescheiden. Manche Pavillons auf den Giardini, wo man sich teilweise (schon fast traditionell) dem Allgemeinthema entzog und wieder einmal der Bespiegelung der eigenen Größe und Macht huldigte, fielen dagegen fast unangenehm in der Gesamtatmosphäre auf. Aber es gab auch Sternschnuppen. Viele der Beiträge/Anregungen stammen aus Lateinamerika - das ist jedoch keineswegs einem möglichen Patriotismus des chilenischen Architekten geschuldet, sondern zeigt nur, dass man in Ländern, die nicht dem westlichen Standard anhängen vielleicht schon weiter im Denken über Alternativen zum Gewohnten ist, als in der Heimat der Stars. Vielleicht haben ja auch die Großen hierzulande die Kleinen erdrückt oder verhindert - wer weiß? Aravena sprach von der Ermutigung der Nutzer, vom notwendigen Enthusiasmus mit dem wir unsere (auch gebaute) Umwelt betrachten müssen. Die „enduser“ sollten wieder ermächtigt werden, von Politikern, Entscheidungsträgern und Architekten Qualität verlangen zu können. Auch das ist eine Ebene, auf der oder mit der man die Ausstellung betrachten kann. Sich beschweren und anklagen - meinte er - sei nicht genug, man müsse etwas tun. Das „business as usual“ muss sich in eine andere Richtung entwickeln. Denn es geht nicht um Gewinn, sondern um eine Verbesserung der Lebensqualität und der Architektur. Als eine der größten Gefahren für die Welt formulierte er in seinem Statement die Gier nach privatem Profit und dass man die gebaute Umwelt nur als Geldmaschine betrachtet. (Analogien zu gewissen Bauprojekten in Wien sind sicher nicht beabsichtigt, aber bemerkenswert.) Das Projekt ergibt sich dann (fast) zwangsläufig aus einer gründlichen, reflexiven Beschäftigung, aus dem Denken und der Verantwortung des jeweils Schöpfenden, des Kreators. Diese Architekturbiennale ist ein Lernprozess für jeden Besucher auch für Journalisten, sie ist kein Konsumartikel. Sie fordert heraus, ist anstrengend (nicht nur durch die langen Wegstrecken). Man darf nie die Geduld verlieren, muss lesen, nachdenken und auch mit den Anwesenden sprechen. Wer dort nicht fragt - bleibt auf der Strecke. Persönliche Befindlichkeiten wie "der Pavillon, die Ausstellung, das Projekt haben mir besser oder weniger gut gefallen", Aussagen wie "die Themen seien zu schwer verständlich, zu verkopft", sind zwar aus subjektiver Sicht zulässig, aber insgesamt obsolet. Wer als Journalist oder Architekt so über das Gesehene, das Konzeptuelle dieser Zusammenstellung von Visionen, von Richtungen urteilt - der, hat die Aussage, den Inhalt der Biennale nicht verstanden. Und wer bloß sachlich, analytisch beschreibend darüber berichtet - auch nicht. Ein bisschen Vertiefung und Begeisterung tut schon gut und ist auch not. Aravena gibt mit „Reporting from the Front“ - ganz wie es sich für eine Architekturbiennale auch gehört - eine Richtung vor. Er zeigt Probleme der Architektur wie zu große Technikgläubigkeit und Effektivitätstendenzen, Vernachlässigung der Umwelt und Ökologie nicht durch Kritik, sondern durch Vermeidung der Kritik auf, lässt junge, in intellektuellen Kreisen zwar bekannte aber trotzdem „no name“ Architekten und Gruppierungen zu Wort kommen. Er hat die Fundamentals von Koolhaas gut studiert, sie um die Dimension des Sozialen in der Architektur erweitert und seine Conclusio daraus gezogen. Die Arbeiten der Beiträge sind nicht nach „gelungen oder nicht gelungen“ zu beurteilen, sondern wichtig ist die Tatsache der Ablöse des Architekturestablishments durch neue, junge und interessierte Akteure. Man konnte dieses Phänomen auch an der Zusammensetzung des Publikums bei den Preview-Tagen erkennen: Hauptsächlich junge Menschen tummelten sich in Venedig, die bekannten, saturierten Gesichter fehlten (bis auf wenige Ausnahmen) völlig. Das Thema hatte eben die Menschen angezogen, die es in der nahen Zukunft betreffen wird. Die ein Gefühl für die Not der Zeit haben und die vielleicht reagieren wollen, es aber bis jetzt nicht konnten. Das Fehlen österreichischer, deutscher und internationaler „Stars“ bei Pressekonferenzen und Veranstaltungen war augenscheinlich. Sicherlich kann man einige der Beiträge als "verkopft", theoretisch oder mit ähnlichen - in diesem Zusammenhang - zynisch überheblichen Wortschöpfungen bedenken. Das tut dem Gesamten aber keinen Abbruch. Journalisten und Architekturkritiker, die anhand dieser wegweisenden Leistung und dieses Mutes - denn den braucht man als Kurator einer solchen Biennale sicherlich - versuchen mit formalistischen und besonders gelungen Wortschöpfungen und -sätzen zu reüssieren, kann man nur zur Selbstkritik und etwas mehr Bescheidenheit raten. Anerkennung der Leistung von Aravena ist das Mindeste, zu dem man sich aufraffen sollte. Warum denn nicht einmal über den eigenen Schatten springen, Kritik in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes, in der Unterscheidung (krínein) begreifen und dann ein Lob aussprechen? Warum muss immer noch ein klein wenig Kritik und Eigenes in journalistischem Verbalzynismus verpackt werden? Ist es das Beweisenwollen der eigenen Größe, die sich aber bei objektiver Betrachtung auf die eines Sandkorns reduziert? Ist denn die Botschaft oder Aufforderung - „Reporting from the Front“ - nicht eindeutig genug? Es soll hier ganz bewusst kein einziger Beitrag, sei es im Arsenale oder in den Länderpavillons gesondert besprochen werden, denn das würde die gesamte Tendenz, die Türe die Aravena aufgestoßen hat wieder ein Stück schließen. Es geht auch nicht darum, es ohnehin eh schon immer gewusst oder gesagt zu haben, all solche Versuche zeigen nur eines, nämlich die Unfähigkeit, Wahrheiten ins Auge zu blicken. Dazu gehört auch das Versagen der Ausbildung, das Versagen der Universitäten, die immer noch dem Starkult huldigen statt Zeichen der Zeit zu erkennen. Wir werden uns von geläufigen Maßstäben der Architektur verabschieden müssen, Ungewohntes wird uns bald gewohnt erscheinen, klein ist besser als groß und kurze Bauzeiten zählen nicht mehr als Leistung, sondern als unnotwendige Attribute einer veralteten Effizienzphilosphie. Auch die Tatsache, dass auf Aravena‘s call hin, innerhalb kürzester Zeit viele Beiträge von bis dato unbekannten Kollektiven nach Venedig gelangten und eine insgesamt stimmiges, auch nachdenklich stimmendes Event produziert wurde, passt in das Motto „Reporting from the Front“. Ein Report muss immer aktuell sein, muss den Krieg - bildlich gesprochen - in diesem Fall mitbringen, er muss in der Zeit sein. Und es stimmt gar nicht traurig, dass so vielleicht eines der vielen Enden der traditionellen Architektur eingeläutet wird. Denn nur, wenn etwas endet, kann auch etwas Neues entstehen. Tod ist gleichzeitig auch Leben, ist Beginn. 

William Knaack